Vom Reis, der keiner ist

St. Petrigemeinde ZwickauPredigten

3. Adventsandacht, St. Petri 2021

Die folgende Auslegung stammt von Pf. Albrecht Hoffmann aus Crimmitschau.

Liebe Freunde in Christus!

Die folgenden Worte sind uns allen recht wohl vertraut. Oft sind sie in der Weihnachtszeit zu hören, weil sie eine der bekanntesten Weissagungen des Alten Testaments darstellen. Gerade im Gottesdienst zu Heiligabend sind sie uns schon öfter über den Weg gelaufen sein. Der Prophet Jesaja schreibt (Jesaja 11,1):

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.

Nun sind diese Worte leicht misszuverstehen. Das mag die folgende kleine Geschichte verdeutlichen. Der Enkel schaut die Oma verwundert an: „Was hat das denn zu bedeuten?! Jesus ist ein Reis? Hä? Jesus isst Reis, das könnte ich ja noch verstehen. Aber wieso IST Jesus ein Reis – mit nur einem ’s’?“ „Nun, mein Kind“, setzt die Großmutter an, „gemeint ist: ‚Es wird eine Rose aufblühen‘! Du kennst doch das Lied ‚Es ist ein Ros entsprungen‘. Da singen wir auch vom ‚Blümelein, so kleine, das duftet uns so süß.‘“ „Aha“, antwortet der Enkel, „Jesus wird also nicht mit Reis zum Essen, sondern mit einer Rose verglichen. Das verstehe ich schon eher.“

Schön, dass der Enkel das versteht. Es stimmt aber auch nicht wirklich! Mit dem „Reis“ in der uns bekannten Übersetzung ist weder Beutelreis noch eine duftende Rose gemeint. Das ist wieder solch ein Irrtum im Advent, von dem wir schon beim Apfel, der keiner war, oder beim Märchen, das keines ist, gehört haben. Der Reis, den keiner isst und der auch nicht süß nach Rose duftet. Der „Reis“, von dem Jesaja redet, ist vielmehr ein kleiner Ast; ein frischer Zweig; ein neuer Sprössling, der aus einem Baumstumpf herauswächst.

Das ist das Bild, welches der Prophet in Gottes Auftrag im Blick auf unseren Heiland malt. Es lohnt sich, diese Worte unter dem Thema zu bedenken: Der Reis, den keiner isst? Das ist der Heilandszweig aus Isais Stamm! Ganz unscheinbar tat er sprießen; bis heute darfst du seine Frucht genießen.

Der Heilandszweig aus Isais Stamm! Ganz unscheinbar tat er sprießen. Bei unserem Bibelwort kann man neben dem „Reis“ auch noch anderes missverstehen. Zum Beispiel, wenn wir vom „Stamm Isais“ hören, aus dem dieser Zweig sprießt. Wer ist das: Isai? In dem vorhin schon erwähnten Lied singen wir: „von Jesse kam die Art“. Aber davon werden wir auch nicht schlauer.

Isai – oder „Jesse“, wie er auch genannt wird – war der Vater von König David. Er lebte rund 1000 Jahre vor Christus. Gott sagte also durch unser Bibelwort voraus: Aus den Nachkommen von Isai wird einmal der Heiland geboren werden. Dieser Heiland würde – wie David, der leibliche Sohn Isais – ein König werden. Aber ein viel größerer noch, der König aller Könige. Genau darum geht es in den Versen nach unserem Bibelwort.

Aber hätte es da nicht genügt, wenn Jesaja vom Nachkommen Davids geredet hätte? Vielleicht, aber mit dem Hinweis auf Isai oder Jesse, zeigt uns Gott eine Besonderheit des angekündigten Königs: Er kommt ganz unscheinbar, ganz niedrig. Wie ich darauf komme? Nun schauen wir einmal auf Isai und David. Als Samuel im Auftrag Gottes los gezogen war, um einen Sohn Isais zu Sauls Nachfolger auf dem Königsthron zu salben, meinte er schon beim Anblick des ältesten Sohnes Isais, dass er den künftigen König vor sich hätte. Doch weder er noch die übrigen Brüder Davids, die Samuel dem äußeren Anschein nach, ganz gut als König gefallen hätten, sollte er salben. Ausgerechnet den jüngsten Sohn Isais, den unscheinbaren Hirtenjungen hatte sich Gott zum König erwählt. David, sozusagen der erste Königssprössling im Stammbaum Isais, wurde mit Gottes Hilfe zum großen König.

Sein Sohn Salomo, der nächste Königssprössling, war weltberühmt für Reichtum und Weisheit. Ein prächtiger, mächtiger Königsbaum war gewachsen. Aber schon bald vergaßen die Sprösslinge Isais ihren Schöpfer. Sie beteten zu Götzen, wurden zu Mördern, zu Lügnern und missbrauchten ihre Königsmacht. Das Volk ließ sich bereitwillig mit ins Gottlose ziehen. Gott warnte immer wieder durch Propheten, dass das nicht gut geht. Jesaja war einer von ihnen. Er musste ankündigen, dass Gott Israel schwer strafen würde. Das geschah rund 600 Jahre vor Christus. Die Israeliten wurden gefangen weggeführt. Später durften sie wieder zurück in ihr Land.

Aber die Könige waren nicht mehr der Rede wert. Gottes Volk war meistens unter Besatzermächten. Vom einst stolzen Königshaus Davids, das aus der Wurzel Isai wuchs, war nur noch ein verrotteter, abgehauener Stumpf übrig. Und doch sollte da etwas Neues sprießen!

Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel!

Genauso ist es eingetreten: Josef und Maria waren späte Nachkommen von eben jenem Isai. Sie waren Ururururur….enkel vom König David. Doch sie waren keine hohen Leute. Ein einfacher Zimmermann, eine einfache junge Frau. Sie standen nicht im Mittelpunkt wie die königlichen Familien heute, wo die Regenbogenpresse nur darauf wartet, dass wieder irgendeine Prinzessin schwanger wird. Die Jungfrau Maria brachte damals in Bethlehem, der Heimatstadt des Königs David, ihren Sohn fast unbemerkt zur Welt. Ein kleiner, schwacher neuer Zweig im Stammbaum Isais. In eine Futterkrippe gelegt und ein paar Windeln eingewickelt. Ein paar Hirten waren die einzigen vor Ort, die durch Gottes Boten etwas davon hörten.

ABER: Dieser neue Sprössling aus dem Stammbaum Isais hat alles verändert. Aus dem schwachen Baby wurde unser allmächtiger Heiland, der Retter der ganzen Welt. Der Heilandszweig aus Isais Stamm! Ganz unscheinbar tat er sprießen. Ist das nicht tröstlich? Gott hat Wort gehalten. Obwohl es menschlich gesehen schon lange vorbei war mit der Herrlichkeit der Isai-Nachkommen, hat er den lebendigen König der Welt daraus hervorwachsen lassen.

Gott hält auch bei dir Wort. Was er in seinem Wort verspricht, hält er gewiss. Und: Ist es nicht eine wunderbare Erinnerung, dass Gott sich nicht zu schade war, ganz niedrig, ganz unscheinbar als Mensch anzufangen? Er hatte schon immer eine Schwäche fürs Schwache! Das war beim Hirtenjungen David so, den er zum König machte. Das war bei den einfachen Leuten Maria und Josef so, die er als Eltern für den Erlöser wählte. Es mag sein, dass du dich manchmal schwach und unwichtig fühlst. Mitunter kommt einem alles im Leben so vor, als wäre man selbst wie ein abgehackter, modriger Baumstumpf, aus dem nichts mehr werden kann. Aber HALT! Hör wieder neu vom Heilandszweig, dem Reis aus Isais Stamm! Niemand ist ihm zu schäbig, zu unbedeutend. Er selbst wuchs still und unbeachtet auf. Er kann und will es auch in deinem Leben wieder grün machen – neue Hoffnung wachsen lassen, denn

Du darfst bis heute die Frucht des Heilandszweigs aus dem Stamm Isais genießen. Jesaja kündigt an, dass der kleine Zweig, der da in Bethlehem wachsen würde, zu einem starken, kräftigen Baum heranwachsen würde:

Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.“

An einem kleinen Apfelbaumsprössling hängt noch kein Apfel. Erst wenn er stark und kräftig ist, trägt er süße Früchte. Wenn Jesaja also ankündigt, dass der Königsnachkomme des Isai „Frucht“ bringt, meint er: Das, was er anpackt, wird Erfolg haben. Und was für einen! Christus, der unscheinbare, zarte Zweig, hat herrlich Frucht getragen. Solche, die seine Vorfahren, die Könige von Israel, eben nicht brachten. Er hat für Gerechtigkeit gesorgt. Gerechtigkeit, die vor Gott Bestand hat. Gott schaut nicht an, wie viel oder wenig du in deinem Leben geleistet hast. Er fragt nicht nach der Anzahl deiner Freunde im Internet oder richtigen Leben. Er fragt nicht nach deinem Schulabschluss oder Kontostand. Er fragt allein danach: Glaubst du, dass das Kind in der Krippe für dich kam, für dich lebt, für dich am Kreuz die Schuld bezahlte?

Wer da „Ja, das glaube ich!“ sagen kann, hat bei Gott nichts zu befürchten – aber alles zu erhoffen! Gerecht gesprochen und versöhnt. Welch eine herrliche Frucht, die Christus in seinem Wort anbietet – die kein König, kein Herrscher sonst bieten kann: Frieden, nämlich Frieden für deine Seele, dein Gewissen. Echten Frieden mit dem, der dir das Leben gab und der dir ewiges Leben schenken will. Alle Schuld, alle deine Kriegserklärungen an Gott sind vergeben durch Christus. Hör und schmecke die Frucht, die Christus dir durch seine Auferstehung geschenkt hat: Weil er den Tod ein für alle Mal besiegt hat, hat er deinen schrecklichsten Feind geschlagen.

Vertraust du auf Christus, wirst auch du einmal aus dem Grab auferstehen und gemeinsam mit allen Erlösten in seinem Reich leben. Welch ein König! Welche Früchte, die dieser Königszweig trägt! Welch eine Freude, zu ihm gehören zu dürfen! Der Heilandszweig aus Isais Stamm: Ganz unscheinbar tat er sprießen; bis heute darfst du seine Frucht genießen.

In diese Frucht dürfen wir nicht nur in der Adventszeit beißen. Zurzeit sind in Zeitung, Fernsehsendungen und im Radio viele zuckersüße weihnachtliche Reden zu lesen und zu hören. Aber sie haben oft wenig Nährwert. Wer aus Advent und Weihnachten bloß ein Familienfest mit Friede, Freude, Liebe macht, ist bald wieder hungrig in der Seele. Doch hier, in der Bibel, haben wir gute, gesunde Kost, die äußerst nahrhaft ist – echtes Kraftfutter für die Seele. Ein Leben lang will uns Gott durch die frohe Botschaft über den Reis, den keiner isst, die richtigen Vitamine für unseren Glauben schenken.

Und so dürft ihr nachher für euch von der Rose singen, dem Röslein – auch wenn eigentlich ein Reislein, ein Zweig gemeint ist. Über diesen Irrtum im Advent kann man hinwegsehen. Erstens ist es nun mal ein bekanntes christliches Weihnachtslied. Und zweitens duftet uns die gute Nachricht vom Reis doch trotzdem süß, wie von einer Rose.

Lasst uns beten:

Großer Gott, hab Dank, dass du dein Versprechen wahr gemacht hast. Aus der Niedrigkeit der Nachkommen von Isai hast du uns den Lebensbaum Jesus Christus wachsen lassen. Stärke durch seine Früchte immer wieder unseren Glauben, unsere Freude und die Vorfreude auf das ewige Leben. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Bild: Von 3268zauber – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6823698